Spaltung der Gesellschaft? Versuch einer Begriffsklärung

Analyse

"Spaltung" ist ein Lieblingsbegriff der Welterklärer für alles und nichts geworden. Der Schriftsteller Jochen Schimmang versucht kenntnisreich eine Begriffsklärung.

Menschen auf der Straße

Zur Bundestagswahl 1987 trat die SPD mit dem NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau als Kanzlerkandidat und dem Slogan „Versöhnen statt spalten“ an. Zwar verlor Rau die Wahl, und Helmut Kohl blieb trotz deutlicher Verluste seiner Partei Bundeskanzler, der Wahlslogan aber blieb auch in Zukunft mit der Person von Rau verbunden. Kaum ein Nachruf, der ihn nicht aus der Zitatenkiste kramte.

Was aber lange nur wie ein folkloristisches Detail aus der Geschichte der alten Bundesrepublik klang, ist als Parole heute anscheinend wieder topaktuell. Denn das offiziöse und das mediale Rauschen haben eins gemein: Beide befürchten (oder beklagen schon als Faktum) die Spaltung der Gesellschaft. Diese wird etwa befürchtet von der Politologin Ulrike Ackermann, die sie auf zunehmende Lagerbildung zurückführt. Auch der Historiker Paul Nolte sieht die Gefahr der Spaltung der Gesellschaft, und Ilse Aigner als Präsidentin des Bayerischen Landtags bezeichnete es dortselbst am 23. September gar als „unsere Aufgabe, jeder Spaltung unserer Gesellschaft entgegenzuwirken“. Zumindest das Letztere dürfte etwas schwierig sein, denn der Forderung liegt eine Begriffsverwirrung zugrunde, für die Frau Aigner jedoch keineswegs das Urheberrecht hat.

Eine Verwechslung

Diese Begriffsverwirrung ist auf die Verwechslung oder Ineinssetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft zurückzuführen. Man muss die Unterscheidung zwischen beiden nicht exakt in derselben Weise treffen wie der Soziologe Ferdinand Tönnies in seinem gleichnamigen Werk. Es bleibt aber die Tatsache, dass ein signifikanter Unterschied besteht. „Wir sind ein Volk!“ etwa ist keine Aussage über eine Gesellschaft; „wir leben in einer (spät)kapitalistischen / multikulturellen / digitalisierten / patriarchalischen Klassen-etc.-Gesellschaft“ sehr wohl (wobei es keine Rolle spielt, ob diese Aussagen jeweils zutreffend sind). Das eine Volk kann sich, wie auch 1989 geschehen, nur auf gemeinsame Abstammung und gemeinsames Territorium stützen, also auf Blut und Boden. Diese stiften die Einheit; jenseits davon verwandelt sich das Volk glücklicherweise in die Bevölkerung. Andere Gemeinschaften werden durch Religionen gestiftet und sind Glaubensgemeinschaften, die auf theologische Einheit zielen. Wo diese zerfällt, führt das zu den zahlreichen Schismen, die wir aus der Kirchengeschichte kennen. Wieder andere Gemeinschaften werden durch Ideologien begründet. Auffällig oft taucht die Rede von den Spaltern, den spalterischen Tendenzen, den Rechts- und Linksabweichlern gerade in der sozialistischen Bewegung auf, angefangen mit dem Haager Kongress der Internationalen Arbeiter-Assoziation 1872 und dem Schisma zwischen Marx/Engels und Bakunin.

Alle Gemeinschaften sind exklusiv, indem sie definieren, wer zu ihnen gehört und wer nicht, und sie sind jederzeit auf der Suche nach dem Feind in den eigenen Reihen, dem Abweichler und Spalter. Das verbindet die Inquisition mit den Mullahs, mit dem Politbüro und den Identitären – und auch mit den Identitätspolitikern heutiger Provenienz. Das Exklusive der Gemeinschaft wird schließlich nicht weniger streng, wenn sie sich community nennt. Im Gegenteil, mancherlei communities sind so identitär, dass jede Sympathiebekundung von außen sofort als kulturelle Aneignung verurteilt wird.

Eine Gesellschaft hingegen ist per definitionem zunächt einmal nicht exklusiv, sondern eine in sich sehr differenzierte Struktur – egal, ob man sie als die Gesamtheit der Verhältnisse zwischen den Menschen in einem bestimmten Entwicklungsstand der Ökonomie sieht wie Marx, systemtheoretisch wie Luhmann als umfassendstes soziales System überhaupt, als eine soziale Praxis, deren Regeln die Akteure großenteils unbewusst befolgen wie nach Bourdieu, oder welche soziologischen Ansätze auch immer es gab und gibt. Man kann Gesellschaft auch mit Adorno als Prozess definieren und konstatieren: „Mehr über sie sagen ihre Bewegungsgesetze als herauspräparierte Invarianten.“

Auf jeden Fall ist eine Gesellschaft etwas, was nicht gespalten werden kann, sondern was schon vielfach differenziert und fraktioniert ist: in arm und reich, Besitzende und Besitzlose, Stadt und Land, Ost und West, gut oder weniger gut Gebildete, in verschiedene Ethnien (deswegen die Sehnsucht der Indentitären und der AfD nach ethnischer Reinheit), in Alterskohorten, Berufsgruppen, Wohnmilieus, kulturelle Milieus, in – um noch einmal mit Bourdieu zu sprechen – „sozialen Habitus, soziale Räume und soziale Felder“; kurz: Eine Gesellschaft ist das genaue Gegenteil eines so heimeligen und wärmenden Gebildes wie der Gemeinschaft.

Die Polarisierung in der Gesellschaft

Nun kann man nicht allen Ernstes annehmen, dass Ulrike Ackermann oder Paul Nolte oder selbst Ilse Aigner zurück in die Wärme der Gemeinschaft wollen, wenn sie vor der Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft warnen. Ihre Besorgnis – und die vieler anderer Warner – gilt, wenn ich es richtig verstanden habe, vor allem der zunehmenden Polarisierung zwischen den einzelnen Fraktionen unserer Gesellschaft. Sie sorgen sich um das, was landläufig als „der gesellschaftliche Zusammenhalt“ bezeichnet wird. Es ist ja in der Tat antizivilisatorisch, wenn ein Querdenker-Demonstrant in Leipzig einen ZDF-Kameramann anspuckt. (taz 12. 11. 2020). Mit Zivilisation aber hat Gesellschaft sehr viel zu tun, ist sie doch gerade die Emanzipation vom Naturzustand, dem die Gemeinschaft, etwa in Form der Familie, noch nahe ist.

Natürlich hat Ulrike Ackermann recht, wenn sie davor warnt, „in Rudelbildung zurückzufallen und Anführern zuzujubeln“ und darauf hinweist, dies gebe es „auf der Linken. auf der Rechten und auch in islamistischen Kreisen“ (DLF Kultur, 14. 3. 2020) Die Polarisierung hat ihren Grund aber  nicht im bösen Willen der Akteure, sondern in den zunehmenden Fraktionierungen, die oben angesprochen sind und die man etwas überspitzt dahingehend zusammenführen kann, dass sich Gesellschaft beim derzeitigen Stand in Gewinner und Verlierer aufteilt und dabei die Losung gilt: „Winner takes it all.

Aufzuheben ist die Rudelbildung auch nicht, indem sich alle politischen Akteure in der sogenannten Mitte drängeln und sich von dort aus als die geeigneten Führer in eine bessere Zukunft anbieten. An den gesellschaftlichen Widersprüchen ändert das rein gar nichts, und „die Menschen“, wie Politiker aller Couleur (als seien sie selber keine) ihre potentiellen Wähler gern nennen, wissen das sehr wohl. Der Hartz-IV-Empfänger weiß durchaus, dass er für seine unmittelbaren Interessen eigentlich nicht Robert Habeck wählen kann. Und eigentlich könnte er auch nicht zu Friedrich Merz überlaufen, der den Armen dieses Landes völlig ironiefrei vorschlug, sich doch für „nur 5 Euro am Tag“ eine zusätzliche Altersvorsorge zu schaffen. Es rechne jede/r nach, wie viel das im Monat ist.

Der Zerfall der Gesellschaft

Dennoch hat die Angst vor der „Spaltung der Gesellschaft“ auch einen Wahrheitskern: Es könnte sein, dass es so etwas wie Gesellschaft irgendwann nicht mehr gibt, weil sie in zu viele, auf Identität (und damit Exklusivität) pochende Teile, vielleicht gar Elementarteilchen zerfällt. Die Gesellschaft wäre dann nicht auf revolutionärem Wege abgeschafft worden, sondern einfach implodiert. „Gesellschaft“ im heutigen Sinn tritt begriffsgeschichtlich erst mit der „bürgerlichen Gesellschaft“ auf, und „die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört … der modernen Welt an“, schrieb Hegel. Das war allerdings 1831, und ob wir noch in der modernen Welt leben, ist nicht ausgemacht. Seitdem sind bald zweihundert Jahre vergangen, in denen die Gesellschaft nicht in den Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ übergegangen ist, wie es nach Hegels Plan hätte laufen sollen, sondern sich im Gegenteil zunehmend atomisiert. Da wird es schwierig mit „Versöhnen statt spalten“, da die Atome in ganz verschiedenen Welten leben. Diese Erfahrung wird in Kürze Joe Biden in den (keineswegs) Vereinigten Staaten machen.